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Ludwig Josef Johann Wittgenstein (* 26. April 1889 in Wien; † 29. April 1951 in Cambridge) war ein österreichisch-britischer Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er lieferte bedeutende Beiträge zur Philosophie der Logik, der Sprache und des Bewusstseins. Seine beiden Hauptwerke Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus 1921) und Philosophische Untersuchungen (1953, postum) wurden zur Grundlage zweier philosophischer Schulen, des Logischen Positivismus und der analytischen Sprachphilosophie.
Ludwig Wittgenstein war das jüngste von acht Kindern des Großindustriellen Karl Wittgenstein und seiner Ehefrau Leopoldine, geb. Kalmus. Karl Wittgenstein gehörte zu den erfolgreichsten Stahl-Industriellen der späten Donaumonarchie und das Ehepaar Wittgenstein wurde zu einer der reichsten Familien der Wiener Gesellschaft der Jahrhundertwende. Der Vater war ein großzügiger Förderer zeitgenössischer Künstler, die Mutter eine begabte Pianistin.
Ludwig Wittgenstein wurde katholisch erzogen, obwohl drei seiner vier Großeltern jüdisch waren. Wie er selbst zeichneten sich seine Geschwister durch außerordentliche musische und intellektuelle Fähigkeiten aus. Sein Bruder Paul etwa wurde ein berühmter Pianist. Diesen Fähigkeiten stand jedoch eine zarte seelische Konstitution gegenüber: Drei (Hans, Rudolf, Kurt) seiner sieben Geschwister begingen Selbstmord. Auch Ludwig Wittgenstein legte Zeit seines Lebens (insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs) depressive Verhaltensweisen an den Tag und erwies sich im menschlichen Miteinander als autoritär und rechthaberisch, aber auch als sensibel und unsicher.
Ludwig Wittgensteins intellektuelle Erziehung begann mit häuslichem Privatunterricht in Wien, ab 1903 besuchte er die Realschule in Linz, gleichzeitig mit Adolf Hitler. Am 28. Oktober 1906 immatrikulierte er sich an der Technischen Hochschule Berlin. Ursprünglich hatte er bei Ludwig Boltzmann in Wien studieren wollen. Für Berlin entschied sich Wittgenstein, weil sein Realschulzeugnis ihm die Einschreibung an der Universität erst nach einem weiteren Studium erlaubte. In Berlin beschäftigte sich Wittgenstein, so die Schwester Hermine in ihren Familienerinnerungen, „viel mit flugtechnischen Fragen und Versuchen.“ Und weiter: „Zu dieser Zeit oder etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d.h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und so völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam.“
Nach dem Abschlussdiplom als Ingenieur 1908 ging Wittgenstein nach Manchester, wo er an der Universität an der Abteilung für Ingenieurwissenschaften versuchte, einen Flugzeugmotor zu bauen. Diesen Plan gab er jedoch bald auf. Dann arbeitete er an „Verbesserungsvorschlägen für Flugzeugpropeller“, einem Projekt, für das er am 17. August 1911 das Patent erhielt. Schließlich dominierte die Philosophie: Nicht zuletzt auf Anregung Gottlob Freges, den er 1911 in Jena besuchte, begann Wittgenstein ein Studium in Cambridge am Trinity College, wo er sich intensiv mit den Schriften Bertrand Russells beschäftigte, insbesondere mit den „Principia Mathematica“, mit dem Ziel, die mathematischen Axiome aus logischen Prinzipien abzuleiten, wie es auch Gottlob Freges Anliegen war. Russell zeigt sich jedoch nach den ersten Begegnungen gar nicht beeindruckt von Wittgenstein: „Nach der Vorlesung kam ein hitziger Deutscher, um mit mir zu streiten. ... Eigentlich ist es reine Zeitverschwendung, mit ihm zu reden.“ (16. Novemb er 1911). Nach nicht einmal zwei Wochen sollte sich Russells Meinung jedoch ändern: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang (ein Österreicher), und ich glaube, wirklich intelligent.“ (Bertrand Russell an Ottoline Morrell, 29. November 1911). Schon bald hielt Russell Wittgenstein für nichts Geringeres als ein Genie, und Wittgenstein entwickelte sich schnell vom Schüler zum Lehrmeister Russells, der dessen Grundannahmen erschütterte. Russell war schließlich der Meinung, Wittgenstein sei besser geeignet als er, sein logisch-philosophisches Werk fortzuführen.
Unter anderem mit Russells Unterstützung wurde Wittgenstein im November 1911 in die elitäre Geheimgesellschaft Cambridge Apostles gewählt. In David Pinsent fand er dort seinen ersten Geliebten[1]. Sie erwarben gemeinsam ein Holzhaus in Skjolden in Norwegen, wo Wittgenstein 1913 für einige Monate an einem System der Logik arbeitete.
Ab dem Jahre 1912 begann Wittgenstein mit Arbeiten an seinem ersten philosophischen Werk, der Logisch-philosophischen Abhandlung, die er in einem Tagebuch als Notizen bis 1917 festhielt. Auch während seiner Zeit als österreichischer Freiwilliger im Ersten Weltkrieg arbeitete er daran weiter, bis er das Werk schließlich im Sommer 1918 vollendete. Es erschien jedoch erst 1921 in einer fehlerhaften Version in der Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie. 1922 wurde schließlich eine zweisprachige Ausgabe unter dem heute bekannten Titel der englischen Übersetzung veröffentlicht: Tractatus Logico-Philosophicus. Abgesehen von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und einem Wörterbuch für Volksschulen blieb die Logisch-philosophische Abhandlung das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Wittgensteins.
Mit der Logisch-philosopischen Abhandlung (Tractatus) vollzog Wittgenstein den linguistic turn (sprachbezogene Wendung) in der Philosophie. In der wittgensteinschen Variante meint dies unter anderem: Philosophische Probleme kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, welche Fehlanwendung von Sprache sie erzeugten. Ziel philosophischer Analysen ist die Unterscheidung von sinnvollen und unsinnigen Sätzen durch eine Klärung der Funktionsweise von Sprache. („Alle Philosophie ist Sprachkritik.“ Tractatus 4.0031) Die Hauptgedanken des Tractatus erwuchsen aus der Auseinandersetzung - und in gegenseitiger Befruchtung - mit Bertrand Russell und werden meist der Philosophie des Logischen Atomismus zugerechnet.
Der Kern von Wittgensteins Frühphilosophie besteht in einer Abbildtheorie der Sprache. Danach zerfällt die Wirklichkeit in „Dinge“ (Sachen, die sich zueinander verhalten). Jedes „Ding“ hat einen „Namen“ in der Sprache. Bedeutung erhalten diese Namen erst durch ihr Zusammenstehen im Satz (Tractatus 3.3). Sätze zerfallen - wie die Wirklichkeit in Dinge - in deren Namen. Wenn die Anordnung von Namen im Zeichen eines Satzes dieselbe Struktur aufweist, wie die Anordnung der von den Namen vertretenen Gegenständen in Wirklichkeit, denselben „Sachverhalt“ darstellt, wird ein Satz dadurch wahr. „aRb“ sagt z.B. deswegen etwas anderes als „bRa“, weil der Name „b“ einmal links von R, das anderemal rechts davon steht, wodurch das Zeichen des in die Namen „a“ und „b“ zerfallenden Satzes jeweils eine andere Struktur hat. Man sieht dem Satzzeichen „aRb“ an, wie der von ihm dargestellte Sachverhalt sich von dem durch „bRa“ dargestellten unterscheidet (Tractatus 3.1432). Bilden die Dinge in Wirklichkeit einen anderen Sachverhalt als ihre Namen im Satzzeichen, wird ein Satz dadurch falsch.
„Sinnlos“ sind dagegen Sätze, die unabhängig von Sachverhalten in der Wirklichkeit wahr oder falsch sind, also Tautologien und Kontradiktionen. Wogegen „unsinnig“ Sätze genannt werden, deren Zeichen überhaupt keine Ding-Verbindungen in der Wirklichkeit darstellt wie z.B.: „Der Satz, den ich hiermit ausspreche, ist falsch“. Dieser Satz bezieht sich nicht auf eine mögliche Ding-Verbindung oder Wirklichkeit, sondern auf sich selber, was „Unsinn“ ergibt. Dasselbe gilt für Sätze, die vorgeben, etwas zu sagen, das über die reine Anordnung von Dingen in der Welt hinaus geht, indem sie sich z.B. etwas ausbitten oder das von ihnen Vorgestellte „gut“ oder „schlecht“ nennen; denn solcher Wert, den die im Satzzeichen vorgestellte Wirklichkeit haben soll, erhellt nie nur aus ihrer Struktur und kann folglich auch nichts sein, das in einer Konstellation von Namen erscheint. Ein Wert lässt sich daher nach Wittgenstein (Tractatus 7) nicht aussprechen, höchstens „erschweigen“ (könnte daher vielleicht in durch eine bestimmte Haltungen informierten Reaktionen oder Taten, nie aber in beschreibenden Worten erscheinen).
Sich selbst beschreibt die Logisch-philosopische Abhandlung gen Schluß (6.54): „Meine Sätze erläutern dadurch, dass sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist.“ Einen bestimmten Sinn spricht Wittgensteins Philosophie sich damit selber ab, da von ihr kein Ding-Zusammenhang (nichts Wirkliches) umrissen wird; vielmehr impliziert die gesamte Struktur der Logisch-philosphischen Abhandlung den „logischen Raum“ schlechthin - als „unsinnige“ Form oder Möglichkeit jedweder Wirklichkeit oder überhaupt denkbaren Sinnes. (Wittgenstein legt nahe, dass, was Sinn ermöglicht, nicht selber bereits sinnvoll sein kann. Später veranschaulicht er dies mit dem Bild des Ur-Meters, das selber keine Länge habe verglichen mit Gegenständen, die zu Länge gelangten, indem sie so lang wie das Ur-Meter seien.)
Wittgenstein entwickelte in der Nachfolge von Gottlob Frege und wohl unabhängig von Charles S. Peirce im Tractatus Logico-Philosophicus die so genannten „Wahrheitstabellen“, die heute in keinem Lehrbuch zur Logik fehlen. „Es handelt sich, ganz eigentlich um die Darstellung eines Systems“ (aus einem Brief Wittgensteins an Ludwig von Ficker, den Herausgeber der Zeitschrift „Brenner“). Laut Wittgenstein liegt die Logik aller Erkenntnis zugrunde - und markiert zugleich deren Grenze: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Tractatus 5.6). In diesem Sinne gibt Wittgenstein im Vorwort der Logisch-philosophischen Abhandlung an: „Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Dieser Satz wurde oft als Absage an die Philosophie überhaupt interpretiert. Er lässt sich aber auch lesen als eine Absage an positive metaphysische Welterklärungen.
Mit der Veröffentlichung der Logisch-philosophischen Abhandlung glaubte Wittgenstein, seinen Beitrag für die Philosophie geleistet zu haben, und wandte sich anderen Tätigkeiten zu. Noch während der Kriegsgefangenschaft in Italien entschied er sich, vermutlich unter dem Eindruck der Lektüre von Leo Tolstoi, für den Beruf des Lehrers. Sein gewaltiges, geerbtes Vermögen teilte er unter seinen Geschwistern auf, einen Teil spendete er jungen Künstlern, unter anderem Adolf Loos, Georg Trakl und Rainer Maria Rilke.
Zunächst besuchte er 1919/1920 die Lehrerbildungsanstalt in Wien. Danach wurde er für einige Jahre Volksschullehrer „in einem der kleinsten Dörfer, es heißt Trattenbach und liegt vier Stunden südlich von Wien im Gebirge“ (Brief an Russell), war jedoch bald in pädagogischer Hinsicht überfordert (wie auch inhaltlich). Nach zwei Jahren wechselte er die Stelle und trat eine neue in Puchberg-am-Schneeberg an, welche er aber nach wiederum zwei Jahren zugunsten einer Stelle in Otterthal verließ. Nachdem er den Schuldienst im April 1926 quittiert hatte, arbeitete er einige Monate als Gärtnergehilfe in einem Kloster.
Von 1926 bis 1928 erstellte er zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann, einem Loos-Schüler, für seine Schwester Margarete Stonborough-Wittgenstein ein repräsentatives Stadt-Palais in Wien (Haus Wittgenstein). Das Palais wurde im Stil des Kubismus erbaut, zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens in Wien und zu einem Treffpunkt des „Wiener Kreises“ - der philosophischen Richtung, deren Begründer Ludwig Wittgenstein war.
Wittgenstein war für die innenarchitektonische Gestaltung des Hauses zuständig. Daneben war er bildhauerisch tätig und erstellte eine Büste im Stile des Wiener Künstlers Drobil. Auch bei diesen praktischen Tätigkeiten zeigte sich die selbstbezogene Arbeitsweise Wittgensteins. Sein Ziel war nicht allgemein gesellschaftlicher Natur, es ging ihm nicht etwa darum, die „Welt zu verbessern“, sondern es ging ihm um sein „Seelenheil“, er strebte intellektuelle und psychische Reinheit und Klarheit an. Später schrieb Wittgenstein rückblickend: „Die Arbeit an der Philosophie ist - wie vielfach die Arbeit in der Architektur - eigentlich mehr die/eine Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (Und was man von ihnen verlangt).“
Ende der 1920er Jahre begann Wittgenstein sich wieder intensiv mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Dabei stand er in Kontakt zu einigen Mitgliedern des Wiener Kreises, dessen Diskussionen er maßgebend beeinflusste (wenngleich in einer Weise, die Wittgenstein nicht guthieß, da er der Meinung war, dass er nicht richtig verstanden worden sei). Durch einen Vortrag des intuitionistischen Mathematikers L. E. J. Brouwer wurde er - so zumindest nach einem Bericht von Herbert Feigl - schließlich nachhaltig aufgerüttelt und wandte sich wieder der Philosophie zu. Während dieser „Übergangsphase“ vertrat Wittgenstein kurzfristig eine Auffassung, die sich als eine Form des Verifikationismus beschreiben lässt: Die Kenntnis der Bedeutung von Sätzen geht einher mit der Kenntnis der einschlägigen Verifikations- oder Beweisverfahren.
1929 kehrte Wittgenstein als Philosoph nach Cambridge zurück, wo er zunächst bei Russell und Moore in einer mündlichen „Prüfung“ über den Tractatus promovierte. Da er sein Erbe während des Ersten Weltkriegs ausgeschlagen und auf seine Geschwister verteilt hatte, war seine finanzielle Lage zunächst prekär, sodass er auf Stipendien angewiesen war. Anfang der 1930er Jahre erhielt er einen Lehrauftrag. Ab 1936 unternahm Wittgenstein mit seinem Geliebten Francis Skinner[1] mehrere Reisen nach Norwegen, Wien und Russland.
1939 wurde Wittgenstein, in der Nachfolge von George Edward Moore, zum Philosophieprofessor in Cambridge berufen - er behielt die Professur bis 1947. Kurz danach erwarb er die britische Staatsbürgerschaft. Dies war insbesondere dem Umstand geschuldet, dass nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland (am 12. März 1938) Wittgenstein nun deutscher Staatsbürger war und im Sinne der Nürnberger Gesetze als Jude galt.
Während der dreißiger Jahre gab Wittgenstein zahlreiche Kurse und Vorlesungen. Immer wieder versuchte er, seine neuartigen Gedanken, die er unter anderem in Auseinandersetzung mit seinem Erstlingswerk entwickelte, in Buchform zu verfassen und erstellte zahlreiche Manuskripte und Typoskripte. Wichtige Zwischenschritte waren „The Blue Book“ (Typoskript eines Diktats zu einer Vorlesung über die Philosophie der Mathematik), „The Big Typescript“ (das rasch wieder verworfene Konzept eines Buches) und „The Brown Book“ (Typoskript einer Ausarbeitung zum Thema Sprachspiele mit einer Vielzahl von Beispielen). Weitere Manuskripte waren die „Philosophischen Bemerkungen“ und die „Philosophische Grammatik“. Trotz seiner intensiven Bemühungen gelang es Wittgenstein jedoch nicht, sein Buchprojekt zu beenden. Etwa ab 1936 begann Wittgenstein an den Arbeiten zu den Philosophischen Untersuchungen, die sich bis etwa 1948 hinzogen. Dieses zweite große Werk hat er selbst weitgehend fertig gestellt, es erschien jedoch erst postum im Jahre 1953. Hierdurch gelangte er schnell zu Weltruhm. Denn dieses Werk beeinflusste die Philosophiegeschichte noch nachhaltiger als die Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus). Es gilt als eines der Hauptwerke der sprachanalytischen Philosophie. In den vierziger Jahren entstand auch das Manuskript „Philosophische Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“.
Viele Interpreten sehen im Spätwerk Wittgensteins eine neue Philosophie, die einen deutlichen Bruch zum Frühwerk darstellt. Die Mehrheit der Interpreten sehen aber eine überwiegende Kontinuität, wobei allerdings die Auffassung zur Sprache sich grundlegend veränderte (siehe auch den nachfolgenden Essay). Wittgenstein hatte die Unmöglichkeit der Zergliederung der Sprache in logisch verknüpfte Elementarsätze erkannt. Sprache kann nicht als Kalkül wie ein Schachspiel nach festen Gesetzmäßigkeiten gehandhabt werden, wie noch im Tractatus angenommen. Wittgenstein wechselte die Metapher:
Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten: und dies umgeben von einer Menge Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (PU, § 18).
Dennoch blieb für ihn die Sprache der Raum des Denkens und der Wirklichkeit. „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (PU, § 43) Dieser Gebrauch findet immer in besonderen Lebensformen statt und ist von diesen abhängig. Ein jeder solcher Zusammenhang ist ein Sprachspiel. „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (PU, § 23) Mediziner haben andere Sprachspiele als Handwerker oder Kaufleute. Aufgabe der Philosophie ist auch bei der geänderten Sprachauffassung die Sprachkritik. „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache.“ (PU, § 109). Gegenstand der Philosophie ist die Alltagssprache. „Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen auf ihre alltägliche Verwendung zurück.“ (PU, § 84). Der Zweck der Philosophie ist eine Therapie. „Der Philosoph behandelt eine Frage, wie eine Krankheit.“ (PU, § 255) Der in einer Sprachverwirrung gefangene Mensch soll wieder befreit werden. „Was ist dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ (PU, §309).
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Wittgenstein nochmals praktisch tätig. Er arbeitete freiwillig als Pfleger in einem Londoner Krankenhaus, 1943 schloss er sich als Laborassistent einer medizinischen Forschungsgruppe an, die den so genannten Wundschock untersuchte, und entwarf Experimente und Laborgeräte. Er entwickelte Apparaturen zur kontinuierlichen Messung von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und -volumen, dabei bediente er sich der Erfahrungen, die er während der Entwicklung seines Flugmotors gemacht hatte.
1944 nahm er seine Vorlesungen in Cambridge wieder auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Wittgenstein seine philosophischen Untersuchungen fort und arbeitete unter anderem an der Philosophie der Wahrnehmung und zu den Themen Gewissheit und Zweifel. Aber auch zu vielen kulturellen und wissenschaftstheoretischen Themen hat Wittgenstein Erhellendes beigetragen. 1939 schrieb er: „Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Dass diese sie etwas zu lehren haben, kommt ihnen nicht in den Sinn.“
Im Oktober 1947 beendete Wittgenstein seine Tätigkeit an der Universität, um sich ganz seiner Philosophie zu widmen. Er lebte von da an zurückgezogen und verbrachte einige Zeit in Irland. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag bei der „Philosophie der Psychologie“, die Gegenstand des II. Teils der „Philosophischen Untersuchungen“ wurde. Es ist umstritten, ob die Aufnahme dieser Gedanken in die Philosophischen Untersuchungen dem Willen Wittgensteins entspricht. 1949 konnte er sein zweites Hauptwerk dann abschließen.
Wittgenstein starb im Jahre 1951 an Krebs. Da Wittgenstein es ablehnte, in ein englisches Krankenhaus zu gehen, verlebte er die letzten Wochen im Hause seines Arztes, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Als dessen Frau Wittgenstein am Tag vor seinem Tod mitteilte, seine englischen Freunde würden ihn am nächsten Tag besuchen, sagte er: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“
Wenn zwei Philosophen zu ihrer Meinung über Wittgenstein befragt werden, so erhält man häufig nicht zwei, sondern vier verschiedene Antworten: zwei unterschiedliche über Wittgensteins Frühwerk (die sich meistens noch relativ ähnlich sind) und zwei unterschiedliche über sein Spätwerk (die sich oft stark widersprechen). Dies mag daran liegen, dass Wittgenstein sein ungewöhnliches Werk kaum erläutert, ja bis zum Ende um dessen Formulierung rang: „Nach manchen missglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, dass mir dies nie gelingen würde. Dass das Beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; dass meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Richtung, in ‚einer’ Richtung weiterzuzwingen.“
Wittgenstein kann durchaus schreiben; die meist kurzen Dialoge seines Spätwerks sind stilistisch brillant. Nur ist sein Zugang traditionslos; besonders der späte Wittgenstein hat in der Philosophiegeschichte keine Vorläufer und stiftet folglich eine neue, beispiellose Art zu denken. Man muss sie erlernen wie eine fremde Sprache, in der man erst mit der Zeit flüssiger wird.
Nur wenige Philosophen haben so beißend über das Philosophieren selbst geurteilt wie Wittgenstein in seinem späteren Denken. Er hielt die „großen philosophischen Probleme“ letztlich für „Geistesstörungen“, die unter anderem entstünden, indem man philosophiere. Sie würden dadurch zu fixen Ideen, die einen nicht mehr loslassen. In der Regel, weil man sich in einen unzuträglichen Sprachgebrauch verrannt habe. „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen“ heißt es in den Philosophischen Untersuchungen, dem Hauptwerk seiner Spätphilosophie.
Beispiel: Die Ähnlichkeit der Sätze „Ich habe einen Stuhl“, „Ich habe einen Eindruck“, „Ich habe Zahnschmerzen“ verführt zur Auffassung, man „habe“ Eindrücke oder Empfindungen in gleicher Weise wie „Stühle“ (raumeinnehmende Gegenstände, deren Besitz man durch Verkauf oder Einäscherung verlieren kann) - wodurch sich das Bild aufdrängt, Wörter wie „Eindruck“, „Empfindung“ oder auch „Gedanke“, „Zahl“ müssten wie „Stuhl“ für irgendwie Raumeinnehmendes - wenn nicht Sichtbares, dann Unsichtbares - stehen: etwa für „Ideen“ oder das, was man durch „Nachschauen“ in seinem „Innersten erblicken“ könne. Wittgenstein zielt darauf ab, solche unwillkürlichen Bilder (die hier etwa einen „inneren Raum“ mit „unsichtbaren Gegenständen“ suggerieren) zu überwinden, indem er z.B. ihre Entstehung ins Bewusstsein hebt. Sein Philosophieren hat, wie er sagt, mit der „Entdeckung“ (und dadurch Entschärfung) „schlichten Unsinns“ zu tun, infolge dessen sich der Verstand „Beulen“ - „beim Anrennen an die Grenzen der Sprache“ - geholt habe.
Bis zu diesem Punkt sind sich die Interpreten noch einig, neigen dann aber dazu, die Schlussfolgerungen, die Wittgenstein zieht, unterschiedlich zu beherzigen. Seine „Philosophie“, sagt er, lasse „alles, wie es ist“ - stelle „alles bloß hin“ und erkläre und folgere nichts. „Da alles offen“ liege, sei nämlich „nichts zu erklären.“
„Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“ Darüber, wie dies Wittgenstein-Diktum zu verstehen sei, zerfallen die Interpreten in zwei Lager. Die eine Partei betont, Wittgenstein liege keineswegs daran, uns (bislang verborgene) Zusammenhänge der Welt zu „erklären“; er wolle ausschließlich Übel oder Schwindel auslösende Fixierungen oder Paradoxa des Denkens lösen. Im Folgenden sei diese Lesart die entzaubernde oder therapeutische Auffassung genannt. Eine andere Lesart findet dagegen, Wittgenstein habe zwar nichts Welterklärendes, aber durchaus Bestimmtes im Hinblick etwa auf die Grenzen von Sinn beobachtet. Entscheidend sei dazu seine neue Art der Aufklärung und Begründung: die Grammatikbeschreibung. Wobei Wittgenstein unter „Grammatik“ etwas über Wortverwendungsnormen Hinausgehendes verstehe, das man mit „Gepflogenheiten“, „Lebensform“ (oder „Programm“) übersetzen könne. Er nenne es „Grammatik“, insofern es sich dabei um etwas Geregeltes, Lernbares, handle, auf das Anwender „abgerichtet“ (sic!) werden könnten. Hinter diese Grammatik lasse sich nach Wittgenstein nicht zurückgehen; sie sei absolut. Diese Auffassung, die beim späten Wittgenstein hauptsächlich Grammatik-Beschreibungen (Sinneingrenzungen) liest, heißt im Folgenden metaphysisch (da es ihr um die „letzten Dinge“ geht: das, was grundlos hinzunehmen ist).
Nach dem lösungsorientiert-therapeutischen Zugang wird man Wittgensteins Spätwerk nicht gerecht, indem man versucht, die unmittelbare Beschreibung von etwas Absolutem daraus zu lesen. Wittgenstein habe dergleichen nirgends beschrieben, sondern - im Gegenteil - Verfahren entworfen (nie vorgeschrieben, immer nur vorgeschlagen) zur Lösung von geisteslähmenden Absolutheitsanmutungen, deren Wurzel er in der unhinterfragten Annahme bestimmter Bilder sah. Unter „Bild“ habe er die Verfestigung einer bestimmten Auffassung zu etwas Selbstverständlichem, Unhinterfragbarem, eben „Absolutem“ verstanden. So die Vorstellungen: Zahlen stehen für Gegenstände. Man muss die Zeit wie den Raum vermessen können (die Anwesenheit von Emphase oder Modaloperatoren zeige nach Wittgenstein immer auf ein Bild: etwas Verabsolutiertes). Wittgensteins Lösungsverfahren entwickelt nun z.B. Vergleichsobjekte, um den Bann eines „Bildes“ zu brechen. Ein philosophisches Problem infolge so eines den Verstand lähmenden Bildes sei etwa das Messen von Zeit. Das problematische Bild ist hier das des Meterstabes, der das, was er vermisst, bereits einnimmt: Raum. Wie ist es so aber möglich, Zeit zu messen? Mit welchem „Meterstab“, der Zeit - Vergangenheit wie Zukunft - bereits einnähme? Zeit lässt sich also gar nicht messen! Was ist dann aber eine Stunde? Wittgenstein löst das Schwindelgefühl, indem er ein anderes „Vergleichsobjekt“ vorstellt: man solle Zeitmessen mit Raummessen nicht durch Meterstab, sondern Abschreiten vergleichen. Wittgenstein sage nicht, betonen die therapeutisch Eingestellten, Zeitmessen sei Abschreiten von Raum; er stelle lediglich als Beispiel einen anderen Vergleichsgegenstand vor: man könne Zeitmessen auch parallel zum Raummessen durch Abschreiten - statt Meterstabverwendung - sehen. So löse sich der Krampf. „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. ... es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. - Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem“. Philosophische Untersuchungen §133
Für die „metaphysisch“ Eingestellten ist dieser Zugang Wittgensteins eine Weiterung von Fähigkeiten, die erst einmal erworben sein wollen - vor allem die Methode der hinnehmenden Veranschaulichung von Sprachspielen, ihrer „Grammatik“ (z.B. die der „Meterstabverwendung“). Dafür habe Wittgenstein bevorzugt einerseits den Verwendungszusammenhang einiger Zentral-Begriffe dargestellt und so die Bedeutung etwa von „Bedeutung“ oder „Regel“ für seine Herangehensweise erhellt, während er andererseits z.B. mit „Sprachspiel“ oder „Familienähnlichkeit“ auch spezifische Begriffe seiner Methode unter Verwendung teilweise für deren Veranschaulichung erfundener Sprachspiele geschöpft und hinreichend bestimmt habe. Das Wesen solcher und aller Begriffe erhelle laut Wittgenstein durchgängig aus der Darstellung ihres Verwendungszusammenhanges oder Sprachspiels, wozu zuletzt auch Betrachtungen nach der philologischen oder historisch-kritischen Methode gehörten, Deutungen, Vergleiche von Entwicklungsstadien und Kritik.
Die „metaphysisch“ Eingestellten sind dementsprechend der Meinung, „Sprachspiel“ sei ein Kernbegriff der Spätphilosophie Wittgensteins; Lebenswirklichkeit zerfalle nach Wittgenstein unhintergehbar in solche beschreibbaren „Regelkreise“, und in der Philosophie gehe es darum, deren Grammatik - paradigmatisch oder im Zusammenspiel heterogener Beispiele - darzustellen. Dies geschehe dann mit manchmal verblüffenden Ergebnissen. Etwa erhelle aus dem verdeutlichten Verwendungszusammenhang von „Traum“, dass damit nichts Privates, sondern nur ein bestimmter zwischenmenschlicher Verlauf gemeint sein könne. Oder es erweise sich, dass Äußerungen der ersten Person Singular keinen Wahrheitswert hätten.
Den Metaphysikern geht es ferner um die Verdeutlichung des nach ihrem Wittgensteinverständnis begriffsschöpfenden Weltbilds einer jeden Lebensform. „Man könnte sich vorstellen“, zitieren sie hierzu Wittgensteins Über die Gewißheit, „dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionieren; und dass sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, in dem flüssige Sätze erstarren und feste flüssig werden.“ Die metaphysische Haltung schaut auf die gerade erstarrten Sätze, um anhand ihrer akuten Sinn von akutem Unsinn abzugrenzen: Offensichtliches festzustellen wie etwa, dass „Steine nicht denken können“ - aber auch weniger Offensichtliches, wieweit man z.B. sinnvoll von „künstlicher Intelligenz“ reden kann. Auch Kulturwissenschaften oder psychotherapeutische Verfahren schöpfen aus diesem Ansatz.
Aus „therapeutischer“ Sicht verstümmeln die Metaphysiker damit die Spätphilosophie Wittgensteins. Es sei ihm nicht darum gegangen, „Richtiges“ von „Falschem“, erlaubten von nicht-erlaubtem Sprachgebrauch, „Sinn“ von „Unsinn“ abzugrenzen, indem er nachweisend darstellte, was „richtig“, „erlaubt“ oder „sinnvoll“ ist. Wenn Wittgenstein über die Bedeutung von Wörtern spricht, hat dies gemäß der therapeutischen Auffassung nicht den Zweck, eine korrekte Bestimmung von Begriffen zu schaffen, sondern den, einen intellektuellen Krampf zu lösen, wie er zum Beispiel in folgender Aussage zum Ausdruck kommt: „Was ist denn nun das Wesen von 'gut'? Es muss doch eine bestimmende Eigenschaft geben, sonst ist doch alles relativ!“
Die Diskussion des Begriffes „Sprachspiel“ steht in engem Zusammenhang mit der des Begriffes „Bedeutung“: In den Philosophischen Untersuchungen heißt es in § 42: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Im direkt davor stehenden Satz bemerkt Wittgenstein jedoch einschränkend: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Die Deutung dieser Textpassage wirft ein weiteres Schlaglicht auf die unterschiedlichen Zugänge von Therapeuten und Metaphysikern.
Die metaphysisch Eingestellten sind der Auffassung, dass Wittgenstein hier eine Bestimmung von „Bedeutung“ (des Wesens des mit dieser Buchstabenkette gekennzeichneten Begriffes) vorgenommen hat. Dementsprechend versuchen sie, eine konsistente Position aus Wittgensteins Werken zu extrahieren. Auch wenn Definitionen, wie sie anerkennen, bei Wittgenstein fast nie „klassisch“ durch die Angabe bestimmender Merkmale erfolgten, sondern indem - oft reihenweise - Veranschaulichendes dargestellt wird, in dessen Ähnlichkeit oder Zusammenklang der bestimmte Begriff dann „erscheine“ (Familienähnlichkeit, ein letztlich offenes Verfahren, das keine scharfen Grenzen vorsehe), würde letztlich auch damit immer etwas - und, das sei sogar Wittgensteins Pointe: auch immer hinreichend - bestimmt. § 42 der Philosophischen Untersuchungen wäre also durchaus als Definition aufzufassen; das einschränkende „nicht für alle Fälle“ sei eher als Index auf weitere Bestimmungen von „Bedeutung“ durch den Autor zu lesen, etwa in Teil II der Philosophischen Untersuchungen, wo Wittgenstein in den Ansätzen einer Philosophie der Psychologie die „sekundäre Bedeutung“ beschreibe als eine bestimmte Form des Erlebens der „primären“, schier im Gebrauch bestehenden. Da es keine über „primäre“ und „sekundäre“ hinausgehende Verwendung des Begriffs „Bedeutung“ im Spätwerke Wittgensteins gäbe, neigen die Anhänger der „metaphysischen Interpretation“ zu der Auffassung, dass Wittgenstein eine andere auch nicht vorsehe und „Bedeutung“ insofern erschöpfend bestimmt habe.
Im Gegensatz dazu vertreten die „therapeutisch“ Eingestellten, Wittgenstein sei es in § 42 keineswegs darum gegangen, Kern und Wesen von „Bedeutung“ zu bestimmen. Die Einschränkung „nicht für alle Fälle“ sei kein Verweis auf andere Stellen im Denken des Autors, sondern hebe hervor, dass die folgende Bestimmung nichts Immerwährendes skizziere, sondern einen möglichen Gegenstand mit dem Potential, einem Denkkrämpfe verursachenden Bild, indem es mit ihm verglichen werde, Lösungsaspekte zu verleihen. So könnte es z.B. entkrampfend wirken, die Bedeutung von „Vorstellung“ oder „Zahnschmerzen“ nicht wie die von „Stuhl“ oder „Auto“ in etwas Raumeinnehmendem zu sehen, sondern zu versuchen, Parallelen zwischen dem mit „Vorstellung“ oder „Zahnschmerzen“ Gemeinten und geregelten Verlaufsformen („Spielen“: deren Zügen...) sehen zu wollen. Gemäß der lösungsorientiert-therapeutischen Haltung lautet die entscheidende Frage hier nicht, wie sich verschiedene Bestimmungen des Bedeutungsbegriffs ergänzen oder addieren, sondern ob die vom „Therapeuten“ entworfenen Gegenstände in der Lage sind - indem man das, was einen verwirrt, mit ihnen vergleicht -, Lösungsaspekte aufscheinen zu lassen.
Der Widerstreit der Spätphilosophie-Deutungen überträgt sich auch auf die Einschätzung der Kontinuität in Wittgensteins Denken. Die „Therapeuten“ neigen zur Annahme eines Bruchs zwischen der unbedingten Position der Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus) und den Entkrampfungsverfahren der Philosophischen Untersuchungen. Für die „Metaphysiker“ entspringen beide Werke derselben negativen Metaphysik, die sich im Frühwerk als letztliche Gegenstandslosigkeit sinnstiftender Logik („Mein Grundgedanke ist, daß die 'logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt.“ TLP 4.0312), im Spätwerk in der Unhintergehbarkeit lebensweltlicher Alltagspraxis („Grammatik“) zeige. Weiter identifizieren sie in Wittgensteins Früh- wie Spätwerk eine gegencartesianische Ablehnung des Dualismus von privater „Innenwelt“ und öffentlicher „Aussenwelt“ sowie des subjektzentrierten Denkens überhaupt, nicht zuletzt durch das Auslassen jeglicher Erkenntnistheorie oder Transzendentalphilosophie.